Mittwoch, 29. Mai 2013

Wissenschaft tritt Laienforschung. Geht das überhaupt?

Die Frage, der Leser ahnt es, ist eher eine rhetorische, weil ich davon ausgehe, dass das durchaus geht. In den USA und seit neuestem wird über Citizen Science in Deutschland verstärkt diskutiert und es werden immer mehr Projekte zu diesem Komplex durchgeführt. Meine Überlegungen dazu sind schon etwas älter, aber die Argumente ähneln sich sehr stark. Dennoch möchte ich meine Argumente kurz vorstellen.
Ausgangspunkt sind Erfahrungen, die ich in den 1980er Jahren in der Erwachsenenbildung gemacht habe. Damals wurde in Niedersachsen ein bundesweit einmaliges Projekt zur Weiterbildung von Heimatforschern durchgeführt, in dessen Kontext nicht nur  Tagungen stattfanden, sondern vor allem Weiterbildungskurse angeboten wurden und schließlich auch eine eigene Schriftenreihe, die "Bausteine zur Heimat- und Regionalgeschichte", entstand. Das Ziel war aber immer eindeutig definiert: Den Laien sollten grundlegende methodische und inhaltliche Kenntnisse vermittelt werden, die sie nicht hatten - aber durchaus vermißten.
In den Seminaren, besonders bei Gruppenarbeiten und den Gesprächen beim Essen, wurde aber zugleich immer wieder deutlich, dass diese engagierten Laien ein teilweise immenses Detailwissen besaßen - für uns Wissenschaftler damals weitgehend bedeutungslos.
Dieses Detailwissen begegnete mir zur gleichen Zeit auch bei Volkshochschulkursen zur Dorfgeschichte immer wieder. Einige wenige, nicht alle!, der Teilnehmer(innen) waren begeisterte und zugleich kritische Sammler zu einzelnen Themen. Mit hohem Zeit- und Geldaufwand, aber auch hoher Detailkompetenz arbeiteten sie Aspekte auf, indem sie sie nicht kontextualisierten wie es Wissenschaftler getan hätten, sondern indem sie sich auf die Details konzentrierten. (Dass es auch Laien gibt, die anhand einer Dorfgeschichte die halbe Weltgeschichte behandeln wollen, sei hier nur am Rande erwähnt; diese Gruppen ist nicht Gegenstand dieser Betrachtungen.)

Mit dem Aufkommen des Netzes Ende der 1990er Jahre herum war ich immer wieder überrascht, wie durch weitgehend selbstorganisierte Arbeiten faszinierende Projekte entstanden, wie etwa die kollaborativ sich entwickelnden Seiten der Genealogen. Einen Blick auf die Anfänge bietet die wayback-Maschine, etwa: http://web.archive.org/web/19980123104121/http://www.genealogy.net/. Das heutige Angebot findet sich unter: http://compgen.de/. Ein anderes, sogar von Wissenschaftlern unterstütztes Projekt war das Zeitschriftenfreihandmagazin, das von Stuart Jenks in Tübingen initiiert und betreut wurde (heute unter: http://www.fordham.edu/magazinestacks/zfhm.html ). Das war noch vor der großen Digitalisierungswelle der Zeitschriften. Immerhin konnte man auf diese Weise in den Inhaltsverzeichnissen vieler deutschsprachiger Seiten suchen.
Diese Ansätze sind inzwischen weiter ausgebaut worden, wie insbesondere die Seiten von compgen zeigen. Durch die Erfassung von Adressbüchern oder Verlustlisten des Ersten Weltkriegs haben wir heute Zugriff auf Datenbestände, die wir auf "klassischem" Weg nie hätten erreichen können.
Damit verändern sich aber auch die Erkenntnismöglichkeiten. Ich bin Regionalhistoriker, musste aber immer wieder feststellen, dass wir Regionen weitgehend aus der Perspektive der Staaten bzw. der Verwaltung untersuchen, selbst dort, wo Personen im Fokus stehen. Menschen sind nur solange zu fassen, wie sie in den regionalen Archiven auftauchen. Menschen sind und waren aber erstaunlich mobil, sie wechselten ihren Wohnort, auch über Grenzen hinweg.  Mit der klassischen Regional- und Alltagsgeschichte sind sie dann kaum noch noch zu fassen. Lediglich in größeren Migrationsphasen wie im 19. Jahrhundert können größere Gruppen untersucht werden, aber dann auch nur selten als Individuen mit individuellen Lebensläufen.
Erst durch die Bereitstellung kollaborativ erarbeiteten Materials wie auf den genannten Genealogieseiten, den Seiten von familysearch oder "Oldenburger Auswanderer" (http://www.auswanderer-oldenburg.de/) bieten sich völlig neue Möglichkeiten wissenschaftlicher Arbeit.
Damit, das ist meine Vermutung, verändert sich aber auch der Blick auf gesamtgesellschaftliche Vorgänge. Ich beschäftige mich immer wieder mit Dorfgeschichte. Eine zentrale Zuschreibung zum Dorf ist die vergleichsweise große "Seßhaftigkeit" von Dorfbewohnern. Im Einzelfall kann man dann nachweisen, dass es mit dieser Seßhaftigkeit nicht sehr weit her war, wenn man für einen etwas längeren Zeitraum Zu- und Abwanderung betrachtet. Durch eine deutlich erweiterte Datenbasis ließe sich wesentlich besser Mobilitätsgeschehen erfassen und damit auch eine neue Perspektive auf historische Phänomene bieten.
Warum aber Laienforscher? Laienforscher, wie ich sie verstehe, zeichnen sich durch folgende Merkmale gegenüber Wissenschaftlern aus:
- Sie haben meist viel Zeit.
- Sie konzentrieren sich auf eine Sache und werden weder durch Gremienarbeit, Lehre, Tagungen usw. abgelenkt.
- Sie sind bereit, in aufwendiger (und oft eintöniger, aber hohe Konzentration verlangender) Weise Primärdaten zu erfassen.
- Sie verfügen durch ihre Konzentration auf wenige Teilaspekte über einen hohen Grad an Sachkompetenz, an die Wissenschaftler nur in seltenen Fällen heran kommen können.
- Sie arbeiteten ergebnisorientiert und pragmatisch. Während Wissenschaft oft erst einen teuren Apparat und viel - ebenfalls teures Personal - benötigt, Anträge schreibt, Tagungen durchführt und anderes mehr, haben Laienforscher, so jedenfalls mein Verdacht, längst das Internet als ideales Arbeitsinstrument entdeckt, einen Server eingerichtet, sich in eine Datenbank eingearbeitet und Daten im Netz publiziert.
Das klingt jetzt so, als würden sie Wissenschaft überflüssig machen. Tun sie nicht, denn Wissenschaftler wollen nicht nur Fakten sammeln, sondern auch auswerten, interpretieren, systematisieren, analysieren. Das ist ihre Domäne.
Die Kooperation zwischen beiden Seiten könnte also deshalb etwa so aussehen, dass die einen mehr systematisch und sorgfältig sammeln, die anderen mehr anaylisieren und interpretieren. Ich schreibe bewußt "mehr", denn ich nehme an, dass es einen wichtigen Überschneidungsbereich gibt, in dem beide Seiten von der Arbeitsweise der anderen Seite lernen können. Wenn Wissenschaft auf Laienforschung trifft, sollte das Ziel sein, dass sich für beide Seiten auch qualitative Dinge ändern, was zumindest einen offenen Dialog voraus setzt.

Zum Schluß noch ein paar Links:
Die deutsche CitizenScience Szene spiegelt sich u.a. auf Facebook:
https://www.facebook.com/citizensciencegermany?ref=hl
Deutsche Citizen Science Projekte finden sich etwa unter:
http://www.wissenschaft-im-dialog.de/projekte/citizen-science/projekte-in-deutschland.html
http://www.citizen-science-germany.de/