Samstag, 3. August 2013

Wie schreibt man eine Stadtgeschichte?

Die Frage ist zunächst so allgemein gestellt, dass eine vernünftige Antwort kaum möglich ist. Dahinter steckt aber eine konkrete Überlegung, nämlich die, wie man damit umgeht, dass eine Ortsgeschichte nicht denkbar ohne die Menschen dieses Ortes ist, jedoch die Menschen sich nicht an den Ort halten, d.h., sich hier zeitweise aufgehalten haben, dann aber weiter gezogen sind. Es ist das alte Problem der Söhne (meist werden die Töchter vergessen, was gerade unter den hier angedeuteten Aspekten besonderer Unfug ist) der Stadt, die hier geboren werden, dann aber wegziehen und woanders die große Karriere machen. Allerdings geht es auch zuweilen in die andere Richtung, Menschen ziehen in die zu untersuchende Stadt.
Beachtung finden diese Menschen noch dann, wenn sie zu den „großen“ „Söhnen“, seltener „Töchtern“ der Stadt gehören. Dann erhalten sie Straßennamen, Gedenksteine, vielleicht sogar Gedenktage. Und niemand fragt, ob denn die Stadt die Rolle von „Eltern“ übernommen hat? Seltsam auch, dass diese Suche nach den „großen“ „Kindern“ des Ortes besonders beliebt bei mittelgroßen und kleinen Städten ist, bei Großstädten extrem selten (das klappt da aus den verschiedensten Gründen nur selten) und bei Dörfern auch nicht, warum eigentlich nicht.
Aber ich komme von meiner Fragestellung ab.
Gleich, welche Richtung, betrachtet man die Sache nicht mehr allein aus der der „großen“ Söhne“ und „Töchter“, dann stellt sich eine ganz andere Frage, nämlich die nach dem Wesen der Stadt und der Art der Beziehungen der Einwohner untereinander. Wenn sich die Art der Beziehungen nicht allein aus lebenslangen und Generationen übergreifenden Beziehungen, sondern temporären ergibt, dann muss sich auch unser Verständnis des Ortes ändern. Und es muss sich die Art der Geschichtsschreibung ändern, denn diese vielen biographischen Fäden kann kein einzelner Forscher mehr in der Hand behalten, sondern es ist eine neue Form der Kooperation gefragt. Nur welche?

Eigentlich nur die Kooperation über das Netz. Zwar gab es Kooperation schon vorher, aber erst das Netz kann die Lösung sein, Aufgaben zu bewältigen, die bislang allein angesichts der schieren Menge von Daten nicht zu schaffen waren, wie etwa die systematische Erfassung der Verlustlisten des Ersten Weltkrieges (immerhin über 8 Mio. Datensätze!).

Nur, so leicht ist das auch nicht. Und auch wenn das Datensammeln und -erfassen über das Netz Möglichkeiten bereit hält, von denen wir früher nur träumen konnten, so löst das nicht das Problem der Analyse und Verknüpfung der Daten. Und schließlich bleibt die Frage nach dem theoretischen und methodischen Fundament der Sache.

Da bleibt auch die Frage nach den Konzepten. Zwar sind transnationale Biographien seit einigen Jahren „in“, aber es sind Einzelbiographien, meist von Bürgerlichen. In eine vergleichbare Richtung geht auch die Anette Schlimm in ihrem Blog besprochene Arbeit von Johannes Paulmann, der letztlich erneut Angehörige bürgerlicher Eliten untersucht. Aber das ist eine andere Intention. Weiter führen da m.E. die Überlegungen von Benjamin Ziemann über ländliche Kriegserfahrungen in Bayern, der sich auch der Frage widmet, wie bisherige Vorstellungen von der Fronterfahrungen den Kriegsalltag nichtbürgerlicher Soldaten widerspiegelt.
In diese Richtung gehen auch meine Überlegungen eher. Bietet die Untersuchung der vernetzten Lebenswege „normaler“ Bürger die Chance, Raumbeziehungen und Raumdeutungen neu zu sehen?


Verweise:
Paulmann, Johannes: Regionen und Welten: Arenen und Akteure regionaler Weltbeziehungen seit dem 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift : HZ 296 (296), 2013, S. 660–699.

Schlimm, Anette: Wie global ist eigentlich global? Oder: Weltbeziehungen, Region, Peripherie, Übergangsgesellschaften, 18. Juli 2013, <http://uegg.hypotheses.org/79>, Stand: 03.08.2013.

Ziemann, Benjamin: Front und Heimat : ländliche Kriegserfahrungen im südlichen Bayern 1914 - 1923, Essen 1997.

Wer trifft wen?

Eigentlich wollte ich in diesem Beitrag danach fragen, was es für Folgen hat, wenn wir eine Ortsgeschichte aus der Perspektive der Menschen schreiben und zwar nicht allein derjenigen, die in dem Ort dauerhaft gelebt haben, sondern derjenigen, die in irgendeiner Form mit dem Ort verbunden waren. Der Ort also nicht mehr als einer der allein durch kommunikative und soziale Beziehungen entsteht, sondern der Verbindungspunkt vieler unterschiedlicher Lebenswege ist. Heute könnten wir solche Geschichte erfassen, schreiben und verknüpfen dank des Netzes. Ein Projekt, das mit analogen Mitteln nur schwer zu erreichen war.
Doch dann kam ich ins Grübeln. Ich musste an unseren kleinen Workshop mit Laienforschern denken, auf dem die Vorsitzende des Vereins Computergenealogie (Comgen) über ihre umfangreichen kollaborativen Projekte berichtete, insbesondere über die Erfassung der Verlustlisten des Ersten Weltkriegs. Sie verwies darauf, dass Laienforscher nach ihrem Zeitplan arbeiten und sich keinen externen aufzwingen lassen. Sie sind, das habe ich selbst in den letzten Jahrzehnten immer wieder erfahren, eigensinnig, folgen ihrer eigenen, keiner fremden Logik. Sehr zum Ärger vieler Wissenschaftler, die deshalb auch mit dieser Gruppe ungern zusammen arbeiten.

Gleichwohl ergeben sich daraus Fragen, denn das Netz könnte ja der Ort sein, an dem sich beide Seiten begegnen. Wie aber wollen wir dann arbeiten? Wer entscheidet über das Tempo? Der Schnellste oder der Langsamste? Was ist überhaupt schnell und was langsam? Ist die/derjenige gemeint!) schneller, der/die möglichst viele Links anklickt, möglichst viele News und Infos sammelt und sie auf seiner Website, in seinem Blog oder bei Facebook verbreitet, wirklich schneller? Oder derjenige, der/die systematisch an einem Thema arbeitet und dieses auch zu Ende bringt. Noch einmal die Verlustlisten: Laien arbeiten nach eigenem Zeittempo daran, aber immerhin sind in absehbarer Zeit über 8 Millionen Datensätze erfasst worden. Dann sind sie die ersten, die das geschafft haben. Also schneller als so manche wissenschaftlichen Projekte, die viel Geld gekostet haben.

Es kommt aber noch was dazu, nämlich die Frage der Motivation. Laienforscher folgen nicht nur ihren eigenen Zeitvorstellungen, sondern auch ihren eigenen Motivationen. Sie wollen nicht das machen, was „man“ von ihnen erwartet, sondern woran sie selbst ein eigenes Interesse haben. Aber ist das sonst so anders? Wir haben zwar ein Ausbildungssystem etabliert, das selbst in der Hochschule immer stärker davon ausgeht, dass Zwangsveranstaltungen in er Lehre angeboten und besucht werden müssen. Das alte, Interessen geleitete Studium ist dabei weitgehend verschwunden (auch wenn es in der Vergangenheit keineswegs immer stattgefunden hat). Nur: Laien sind nicht an die Zwänge des Studiums gebunden und wenn wir mit ihnen kooperieren wollen, sind wir auf Entgegenkommen angewiesen.

Dazu kommt noch ein weiterer Punkt: Unsere Art, die Vergangenheit zu untersuchen, ist nicht unbedingt die allgemein verbreitete. Unsere Konzepte, theoretischen und methodischen Zugänge werden nicht von Laien getragen - zumindest nicht immer. Im jetzigen System stört das nicht: bei den beiden getrennten Sphären kommen wir uns nicht in die Quere, können ausweichen. Bei einer Kooperation wäre das aber ganz anders. Es würde dann auch nicht das bis jetzt praktizierte Mittel der „Weiterbildung“ also der Vermittlung unserer Wissenschaft an die Laien genügen.

Kooperation mit Laien bedeutet deshalb immer auch, inhaltliche und methodische Zugeständnisse zu machen bzw. sich auf gänzlich andere Zugangsweisen, Fragestellungen und Perspektiven einzulassen. Wollen das Wissenschaftler oder - brauchen sie das gar? 

Mittwoch, 3. Juli 2013

Netzwerke

Unsere Tagung rückt näher und ich bin im realen Leben und im Netz unterwegs. Überall gibt es lokale Initiativen, teilweise vernetzt, teilweise auch nicht. Dazu kommen die Genealogen, die längst nicht mehr nur Familiengeschichte betreiben. Besonders eindringlich die Arbeit an einem Nachlass eines verstorbenen Kollegen, der eine Stadtgeschichte gerade vorbereitete: Hier spielen die biographischen Zugänge eine entscheidende Rolle. Das wirft für mich immer mehr die Frage auf, inwiewefern unsere raumbezogenen Zugänge zur Geschichte nicht erweitert werden müssen. Dazu haben mich auch schon Bücher wie der Sammelband von Bernd Hausberger über "Globale Lebensläufe" angeregt, aber hier treffe ich nun auf eine Vielzahl von derartigen Ansätzen, die es vielleicht ermöglichen, den Einzelfall in einem wesentlich erweiterten Kontext zu stellen.
Es bleibt spannend.

Mittwoch, 29. Mai 2013

Wissenschaft tritt Laienforschung. Geht das überhaupt?

Die Frage, der Leser ahnt es, ist eher eine rhetorische, weil ich davon ausgehe, dass das durchaus geht. In den USA und seit neuestem wird über Citizen Science in Deutschland verstärkt diskutiert und es werden immer mehr Projekte zu diesem Komplex durchgeführt. Meine Überlegungen dazu sind schon etwas älter, aber die Argumente ähneln sich sehr stark. Dennoch möchte ich meine Argumente kurz vorstellen.
Ausgangspunkt sind Erfahrungen, die ich in den 1980er Jahren in der Erwachsenenbildung gemacht habe. Damals wurde in Niedersachsen ein bundesweit einmaliges Projekt zur Weiterbildung von Heimatforschern durchgeführt, in dessen Kontext nicht nur  Tagungen stattfanden, sondern vor allem Weiterbildungskurse angeboten wurden und schließlich auch eine eigene Schriftenreihe, die "Bausteine zur Heimat- und Regionalgeschichte", entstand. Das Ziel war aber immer eindeutig definiert: Den Laien sollten grundlegende methodische und inhaltliche Kenntnisse vermittelt werden, die sie nicht hatten - aber durchaus vermißten.
In den Seminaren, besonders bei Gruppenarbeiten und den Gesprächen beim Essen, wurde aber zugleich immer wieder deutlich, dass diese engagierten Laien ein teilweise immenses Detailwissen besaßen - für uns Wissenschaftler damals weitgehend bedeutungslos.
Dieses Detailwissen begegnete mir zur gleichen Zeit auch bei Volkshochschulkursen zur Dorfgeschichte immer wieder. Einige wenige, nicht alle!, der Teilnehmer(innen) waren begeisterte und zugleich kritische Sammler zu einzelnen Themen. Mit hohem Zeit- und Geldaufwand, aber auch hoher Detailkompetenz arbeiteten sie Aspekte auf, indem sie sie nicht kontextualisierten wie es Wissenschaftler getan hätten, sondern indem sie sich auf die Details konzentrierten. (Dass es auch Laien gibt, die anhand einer Dorfgeschichte die halbe Weltgeschichte behandeln wollen, sei hier nur am Rande erwähnt; diese Gruppen ist nicht Gegenstand dieser Betrachtungen.)

Mit dem Aufkommen des Netzes Ende der 1990er Jahre herum war ich immer wieder überrascht, wie durch weitgehend selbstorganisierte Arbeiten faszinierende Projekte entstanden, wie etwa die kollaborativ sich entwickelnden Seiten der Genealogen. Einen Blick auf die Anfänge bietet die wayback-Maschine, etwa: http://web.archive.org/web/19980123104121/http://www.genealogy.net/. Das heutige Angebot findet sich unter: http://compgen.de/. Ein anderes, sogar von Wissenschaftlern unterstütztes Projekt war das Zeitschriftenfreihandmagazin, das von Stuart Jenks in Tübingen initiiert und betreut wurde (heute unter: http://www.fordham.edu/magazinestacks/zfhm.html ). Das war noch vor der großen Digitalisierungswelle der Zeitschriften. Immerhin konnte man auf diese Weise in den Inhaltsverzeichnissen vieler deutschsprachiger Seiten suchen.
Diese Ansätze sind inzwischen weiter ausgebaut worden, wie insbesondere die Seiten von compgen zeigen. Durch die Erfassung von Adressbüchern oder Verlustlisten des Ersten Weltkriegs haben wir heute Zugriff auf Datenbestände, die wir auf "klassischem" Weg nie hätten erreichen können.
Damit verändern sich aber auch die Erkenntnismöglichkeiten. Ich bin Regionalhistoriker, musste aber immer wieder feststellen, dass wir Regionen weitgehend aus der Perspektive der Staaten bzw. der Verwaltung untersuchen, selbst dort, wo Personen im Fokus stehen. Menschen sind nur solange zu fassen, wie sie in den regionalen Archiven auftauchen. Menschen sind und waren aber erstaunlich mobil, sie wechselten ihren Wohnort, auch über Grenzen hinweg.  Mit der klassischen Regional- und Alltagsgeschichte sind sie dann kaum noch noch zu fassen. Lediglich in größeren Migrationsphasen wie im 19. Jahrhundert können größere Gruppen untersucht werden, aber dann auch nur selten als Individuen mit individuellen Lebensläufen.
Erst durch die Bereitstellung kollaborativ erarbeiteten Materials wie auf den genannten Genealogieseiten, den Seiten von familysearch oder "Oldenburger Auswanderer" (http://www.auswanderer-oldenburg.de/) bieten sich völlig neue Möglichkeiten wissenschaftlicher Arbeit.
Damit, das ist meine Vermutung, verändert sich aber auch der Blick auf gesamtgesellschaftliche Vorgänge. Ich beschäftige mich immer wieder mit Dorfgeschichte. Eine zentrale Zuschreibung zum Dorf ist die vergleichsweise große "Seßhaftigkeit" von Dorfbewohnern. Im Einzelfall kann man dann nachweisen, dass es mit dieser Seßhaftigkeit nicht sehr weit her war, wenn man für einen etwas längeren Zeitraum Zu- und Abwanderung betrachtet. Durch eine deutlich erweiterte Datenbasis ließe sich wesentlich besser Mobilitätsgeschehen erfassen und damit auch eine neue Perspektive auf historische Phänomene bieten.
Warum aber Laienforscher? Laienforscher, wie ich sie verstehe, zeichnen sich durch folgende Merkmale gegenüber Wissenschaftlern aus:
- Sie haben meist viel Zeit.
- Sie konzentrieren sich auf eine Sache und werden weder durch Gremienarbeit, Lehre, Tagungen usw. abgelenkt.
- Sie sind bereit, in aufwendiger (und oft eintöniger, aber hohe Konzentration verlangender) Weise Primärdaten zu erfassen.
- Sie verfügen durch ihre Konzentration auf wenige Teilaspekte über einen hohen Grad an Sachkompetenz, an die Wissenschaftler nur in seltenen Fällen heran kommen können.
- Sie arbeiteten ergebnisorientiert und pragmatisch. Während Wissenschaft oft erst einen teuren Apparat und viel - ebenfalls teures Personal - benötigt, Anträge schreibt, Tagungen durchführt und anderes mehr, haben Laienforscher, so jedenfalls mein Verdacht, längst das Internet als ideales Arbeitsinstrument entdeckt, einen Server eingerichtet, sich in eine Datenbank eingearbeitet und Daten im Netz publiziert.
Das klingt jetzt so, als würden sie Wissenschaft überflüssig machen. Tun sie nicht, denn Wissenschaftler wollen nicht nur Fakten sammeln, sondern auch auswerten, interpretieren, systematisieren, analysieren. Das ist ihre Domäne.
Die Kooperation zwischen beiden Seiten könnte also deshalb etwa so aussehen, dass die einen mehr systematisch und sorgfältig sammeln, die anderen mehr anaylisieren und interpretieren. Ich schreibe bewußt "mehr", denn ich nehme an, dass es einen wichtigen Überschneidungsbereich gibt, in dem beide Seiten von der Arbeitsweise der anderen Seite lernen können. Wenn Wissenschaft auf Laienforschung trifft, sollte das Ziel sein, dass sich für beide Seiten auch qualitative Dinge ändern, was zumindest einen offenen Dialog voraus setzt.

Zum Schluß noch ein paar Links:
Die deutsche CitizenScience Szene spiegelt sich u.a. auf Facebook:
https://www.facebook.com/citizensciencegermany?ref=hl
Deutsche Citizen Science Projekte finden sich etwa unter:
http://www.wissenschaft-im-dialog.de/projekte/citizen-science/projekte-in-deutschland.html
http://www.citizen-science-germany.de/